Der Stein und der Tau

Libelle auf Stein im Wasser

Eine Liebesgeschichte aus der Natur

von Sabine Rennwald

Es war einmal ein Stein.
Der war hart wie ein Stein.
Entweder lag er regungslos
am Flussufer in der Sonne
oder er wurde ein Stück weit von
den reißenden Wellen fortgetragen.
Oder er wurde an einem warmen Tag
von kühlem, glasklarem
Wasser sanft umspült.

Der Stein war stumm,
in sich gekehrt,
und hatte nichts mehr zu sagen.
Er war voll Bitterkeit
und steinhart.
Tief drinnen
unter seinen Steinschichten
lag etwas Winziges
Lebendiges verborgen.
Aber das wusste niemand.

Eines Tages,
es war ein ganz gewöhnlicher
früher Sommermorgen,
geschah etwas.
Es kam ein
sanfter Tau
vom Himmel
irgend woher.

Er legte sich auf die Gräser
und Blumen,
auf die Erdkrumen
und Baumrinden,
auf die Zweige
und Blätter,
auf die Oberfläche
des fließenden Wassers
und ebenso legte er sich
auf den Stein.

Der Stein war vieles gewohnt
und hatte schon
jedes Wetter erlebt.
Er blieb unverändert liegen
und registrierte nichts.

Doch der Tau
war ein besonderer Tau
und umgab den Stein
wie ein frischer,
liebevoller Hauch,
in der aufgehenden Sonne
sanft schillernd
in Regenbogenfarben.
Er bedeckte die ganze harte
Oberfläche des Steines,
still, bescheiden,
mit unaufdringlicher Zärtlichkeit.

Die Sonne stieg am Himmel empor,
ließ ihre Strahlen über
die Landschaft wandern
und sog die leichte Feuchtigkeit
auf, die auf den Gräsern
und Blumen lag,
auf den Erdkrumen
und Baumrinden,
auf den Zweigen und Blättern;
und das Wasser des Baches
verdunstete an seiner Oberfläche,
ein leichter Nebel erhob sich,
strich flüchtig über die Wiesen
und wanderte weiter.

Als die Sonne suchend umherblickte
und tastend umherstreifte,
ob sie noch einen Tau fände,
den sie zum Himmel
auf die Wanderschaft
schicken sollte,
entdeckte sie
den glitzernden Stein,
auf dessen taubedeckter
Oberfläche sich ihre
eigenen Strahlen brachen
wie auf einem Diamanten.

Da sah sie ihre eigene Schönheit
und war innerlich berührt.
Sie lächelte, huschte vorbei
und tat so, als hätte sie
den Tau übersehen;
und gab ihm damit die Erlaubnis
entgegen aller ewigen Gesetze,
zu bleiben.
Der Tau lächelte ebenfalls,
ließ seine Tröpfchen
in kleinere zerfallen
und schmiegte sich noch fester
an den Stein.

Tief drinnen
unter seinen Steinschichten
begann sich im Verborgenen
etwas zu regen.
Es zitterte leicht
und wurde unruhig -
ein Gemisch von Gefühlen
aus Furcht
und Erstaunen.
Eine Spur von Empörung war da,
nach unendlichen Zeiten
geweckt zu werden
aus dumpfem Schlaf
und versteinerter Bitterkeit.

Nach außen hin
bemerkte man nichts
von dem, was sich innen regte,
doch es gab kein Aufhalten mehr.
Die Seele des Steines
begann sich zu bewegen,
mittlerweile
ein Gemisch von Gefühlen
aus Erstaunen und Freude.
Die Furcht hatte sich
in Neugier verwandelt,
und diese bewirkte unweigerlich,
dass die Härte des Steines
und die Bitterkeit
anfingen, zu schmilzen.

Währenddessen
lag der Tau dort
und umgab den Stein
wie ein frischer,
liebevoller Hauch,
und in der aufsteigenden Sonne
begann er grün zu leuchten
wie ein Smaragd.

Es vergingen Zeiten
und weitere Zeiten,
und in der Klarheit des Taus
bildeten sich zarte grüne Wesen,
die ihre weichen, kleinen Arme
nach allen Richtungen ausstreckten
und an den Stein anschmiegten:
Moos
wuchs auf der
unbeweglichen Oberfläche.

Da begann sich das Innere
des Steines zu öffnen;
die harte Schale
über seiner Seele
bekam Risse,
und die zarten grünen Wesen
streckten ihre Füßchen
in seine Tiefe,
indem sie dort wurzelten.
Der Tau gab ihnen zu trinken
und brachte Fruchtbarkeit
in den aufgebrochenen Stein.
Dieser jubelte,
er fing an zu leben,
alle Angst war gewichen,
alle Bitterkeit geschmolzen.

Die Sonne hörte das Jubeln
und lächelte warm.
Der Wind trug
die gewichene Angst davon
und die geschmolzene Bitterkeit,
und brachte stattdessen
auf seinen unsichtbaren Flügeln
die Samenkörner
von kleinen Pflanzen herbei.

Diese begannen,
auf und in dem Stein zu keimen,
nachdem sie sich
häuslich niedergelassen hatten;
und, gespeist von dem Tau,
von herbeigewehten Erdkrumen,
von dem Lächeln der Sonne,
von dem Wohlwollen des Windes
und der Liebe des Steines
begann sein Äußeres
zu wachsen und zu blühen,
sich auszudehnen
und zu sprießen
in fröhlicher Lebendigkeit.

Und so entstand,
während der Stein
sich öffnete und verschenkte,
ein unvergleichliches Gärtlein
von unbeschreiblicher Schönheit,
und dieses brachte
hundertfältige Früchte.

Solch ein Wunder
geschieht immer wieder,
wenn sich ein Mensch -
wie der Stein -
der Liebe Gottes öffnet,
die wie ein Tau
vom Himmel irgendwoher
auf ihn herniederkommt
und seine Seele lebendig macht.

1998 (c) Sabine Rennwald


Er sendet sein Wort,
da schmilzt der Schnee,
er lässt seinen Wind wehen,
da taut es.

(Psalm 147.18, Online-Bibel)


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